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Skurriles Recruiting Teil 1: Tattoos und Tequila

Lieber Gast,

seit Beginn meiner Tätigkeit in der Auswahl von Mitarbeitern, in der Berufseignungsdiagnostik und im Online-Assessment ab 2008 gab es schon manches Bewerbungsverfahren, das nicht den Anforderungen der DIN 33430 entsprach.

Sondern deren alleinige Quelle die Kreativität, der Glaube oder das Marketing und Vertrieb der Entscheider, Berater oder Verkäufer war.

Natürlich sind innovative Methoden zum Anwerben, und vor allem: dem Halten, von Arbeitskräften angesichts des Mangels an geeigneten Personen in vielen Branchen gefragt – Und das Employer Branding bzw. Arbeitgebermarketing feiert sich in einer Vielzahl von Spielarten und seine mehr oder weniger großen Erfolge.

Doch zwischen dem Employer Branding und der Auswahl und Entscheidung für oder gegen einen Bewerber sollten wir trennen – Und Letztere auf fundierte Methode nach dem aktuellem Stand von Wissenschaft und Technik fußen.

Doch wie gesagt, diese Trennung und die Nutzung bewährter Verfahren zur Eignungsdiagnostik passiert nicht immer so, wie eine Reihe von Praxisbeispielen zeigt. Eines habe ich heute mitgebracht:

Inspiriert wurde ich zu dieser Newsblog-Reihe vom Sammeln des renommierten Kollegen Joachim Diercks von CYQUEST, der in seinem Recrutainment Blog schon so manches skurrile Recruiting beschrieb, und durch einen heutigen Artikel im Düsseldorfer Lokalteil der Rheinischen Post, der es in sich hat: Denn dieses Recruiting zielt buchstäblich unter die Haut, in den Magen und auf den Kopf!

Worum geht es? Wir wir im Artikel »Tattoos und Tequila für den Traumjob« von Laura Wagener lesen, leidet auch die Hotelkette Ruby in Düsseldorf unter dem Fachkräftemangel in der Gastronomie (siehe Foto als Quelle):

Laut der Website hat das Hotel-Unternehmen derzeit 22 freie Stellen in Düsseldorf an drei Standorten in der Landeshaupt (Hinweis: 119 insgesamt in 14 europäischen Städten): Vom Assistant Housekeeper über den Resident / Hotel Manager bis zum Supervisor Service & Reception finden sich dort zirka 10 verschiedene Arten von Positionen.

Im Text zitierter Artikel in der Rheinischen Post vom 11.07.2023 (Foto: S. Klemens)

Im Falle der Ruby Hotels stammt die Idee zur neuen Employer Branding Kampagne wohl direkt aus der Umgebung von Gründer und CEO Michael Struck, wie wir aus der Pressemitteilung der Hotelkette zu deren Start an unter dem Slogan „Ready for a new tattoo?“ lesen.

Und hier erfahren wir auch, dass dieses skurrile Recruiting nicht auf Düsseldorf beschränkt ist, sondern ab Juni in Deutschland, Österreich und der Schweiz (DACH-Region) sowie Großbritannien und den Niederlande startete. Und weiter heißt es in der Pressemitteilung:

»Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels, der durch die Pandemie noch einmal verstärkt wurde, gilt es neue und innovative Wege im Recruiting zu finden und sich von der breiten Masse abzuheben«

Und wie Uta Scheurer, Vice President Human Resources, weiter ausführt: »Ruby ist eine Love Brand für Teamplayer, die Charakter, Seele und Individualität schätzt«.

Jeder neue Mitarbeiter (w, m, x) erhalte laut der Website nach sechs Monaten im Job einen Zuschuss für ein Tattoo – Alternativ auch ein Piercing oder eine neue Frisur, wer, so möchte ich anmerken, Angst vor der Nadel hat, bereits eine ausgedehnte Körperbemalung oder -durchstechung hat. Oder die oder der nicht ganz so offen von seiner Persönlichkeit her ist, und bei einer neuen Frisur schon drucksen muss.

Doch ist der dann bei einem Ruby-Hotel überhaupt richtig? Müssen alle Mitarbeiter dort, egal welchen Geschlechts, eigentlich immer offen für alles sein? Ist eine hohe Offenheit für Erfahrung arbeitspsychologisch – und auch ethisch – immer besser?

Also persönlichkeitspsychologisch gesprochen nach dem Fünf-Faktoren-Modell (Big Five): Sehr hohe oder mindestens hohe Werte auf der Persönlichkeitseigenschaft Offenheit für Erfahrung aufweisen? Und ist das überhaupt, nochmals betont, für alle ausgeschriebenen Positionen sinnvoll?

Nun, dies sollte man natürlich gut prüfen! Denn auch konservative Ausprägungen (also eher geringe Offenheitswerte) sind für manche Arbeitsanforderungen, Jobs und Stellen besser geeignet – und wie alle Persönlichkeitsausprägungen zu rund 50 Prozent genetisch festgelegt (und damit zu 50 Prozent durch die Umwelt).

Denn wohl nicht alle Ruby-Mitarbeiter sollen oder können ihre Kreativität und Individualität im Job ausleben, nehme ich mal an. Und schließt ein solcher Ansatz nicht viele Menschen aus, die dennoch gerne die Belegschaft der Hotelkette verstärken können und / oder wollen, auch wenn sie etwas konservativer sind? Heißt Vielfalt bzw. Diversity nicht die Gemeinschaft des gesamten Persönlichkeitsspektrums?

Einige Fragen bleiben! Doch ich weiß vielleicht zu wenig über die Hotelbranche allgemein oder den Erfolgsansatz der Ruby-Hotels (der ja bewusst laut der Unternehmenssprecherin anders ist) und gehe davon aus, dass die Geschäftsführung und das HR-Management weiß was es tut.

Und wie ein altes Sprichwort sagt: Der Erfolg gibt Recht! Natürlich nur, wenn der Erfolg einer Maßnahme auch mit hoher Wahrscheinlichkeit, d.h. mittels Evaluation und quasi-experimentellem Design, auf diese zurückgeführt werden kann – was heute durch Digitalisierung sowie Small und Big Data jedoch einfacher möglich ist.

Gelingt also das von Ruby Hotels gesetzte Ziel, dass jeder Mitarbeiter seine individuelle Story schreiben wird, und seine eigene Persönlichkeit zeigen und auch bei der Arbeit zu leben kann?

Ich bin skeptisch!

Wie ist der Ablauf des Ruby-Recruitings in Düsseldorf?

Am 04. August 2023 findet »Tats & Tequila in der Ruby Luna« von 14 bis 19 Uhr ohne Anmeldung statt (Tats = Tattoos). Doch jeder Interessent solle einen kurzen Lebenslauf dabei haben laut der Rheinischen Post, denn so ganz ohne Dokumentenanalyse geht es auch nicht.

In informeller Atmosphäre sollen die Bewerber dort die Personaler überzeugen, dass die passende Ruby-Persönlichkeit und die notwendigen Kompetenzen haben. Die Gespräche bzw. Interviews laufen dann hoffentlich zwar informell, doch nicht unstrukturiert statt, sondern strukturiert, damit diese – qualitätsbezogen gesprochen – auch objektiv, reliabel und valide ist.

Anders ausgedrückt: Damit die Interviews zwischen den Bewerbern auch vergleichbar sind, eine hohe Genauigkeit und eine hohe Gültigkeit hinsichtlich der interessierenden psychologischen Merkmale (Kompetenzen, Fähigkeiten, Persönlichkeitsausprägungen) haben.

Und wer diese Interview-Phase erfolgreich meistert, der bekommt sofort ein Jobangebot sowie die Möglichkeit, sich vor Ort tätowieren zu lassen – Oder wie wir im RP-Artikel lesen einen kostenlosen Drink.

Wie bitte? Nur ein kostenfreies Getränk? Hm, auch wenn es Tequila ist, so scheint mir doch die Vergleichbarkeit in der Belohnung arg unterschiedlich! Oder habe ich etwas verpasst, und die Alkohol- und Wasserpreise sind so durch die Decke geschossen? Ok, es ist derzeit heiß, doch so heiß? 😉

Aber vielleicht sehe ich das alles etwas antiquiert und glaube einfach, dass die Auswahl von Mitarbeitern auf fundierter Eignungsdiagnostik beruhen sollte. (Nachher kann man dann ja immer noch zusammen einen Tequila trinken, „From Dust till Dawn“ schauen und George Cloonys Filmtattoos darin bewundern).

Doch vielleicht ist ein solcher Ansatz der Selbst-Selektion (nur die passende Zielgruppe wird zum Bewerber) erfolgreich, wie es auch im Self-Assessment als Teil des digitalen Assessments gemacht wird.

Und dann kann man bei einem solchen Prozess auch gerne innovativ und spielerisch vorgehen, wie es Joachim Diercks mit CYQUEST und dessen Recrutainment bzw. Gamification-Ansatz beweist (siehe hierzu meine Rezension zu seinem Buch als Co-Autor).

Ein Gedanke kommt mir noch: Möglicherweise ist das Ruby-Recruiting noch subtiler: Denn interessierte Kandidaten in Düsseldorf können für das Tattoo aus 60 bis 80 Motiven wählen. Hier sei laut Laura Wagener von der Rheinischen Post von Old School über Geometrie bis Fineline für jeden Geschmack etwas dabei.

Da wäre doch eine Analyse über die Wahl der Jobgeschenke interessant: Was sagt es uns, dass jemand ein Tribal wählt? Und ein Totenkopf? Eine Rose oder einen Schmetterling? Oder gar keine Tätowierung, sondern ein kostengünstigeres Getränk (mit oder ohne Alkohol?). „Geht nicht!“ wirfst Du ein? Genau: Das Jobangebot steht ja bereits vorher fest.

Doch wer die Probezeit besteht oder nicht: Da könnte man im Zuge der Validierung des Auswahlverfahren drauf schauen … 😉

Fazit

Wie ist das skurrile Recruiting der Ruby Hotels nun zu bewerten? Sicher, die Aufmerksamkeit bei der gewünschten Zielgruppe kann somit eher erreicht werden, als auf klassischen Wegen wie Stellenanzeigen.

Und das Tattoo ist ja nicht nur eine besondere Belohnung, sondern hat auch ein besonderes Bindungspotenzial: Jeder wird sich erinnern, dass er dieses Tattoo durch Ruby bekam – Und vielleicht eine geringere Wechselbereitschaft an den Tag legen.

Wir kennen das aus z.B. aus Studentenverbindungen oder Sekten und deren Aufnahmeritualen: Je schwieriger und /oder schmerzhafter diese waren, desto stärker wird die Bindung an und dere Einsatz für die Gruppe! Ein klassischer sozialpsychologische Effekt (Buchtipp: Robert Cialdini, 2017: Die Psychologie des Überzeugens.)

Doch werden auch diejenigen von der Ruby-Kampagne angezogen, die wirklich zu den ausgeschriebenen Stellen passen?

Wie bereits oben ausgeführt: Es werden sich eher Personen mit sehr hohen bis hohen Offenheitswerten beim Ruby-Tag einfinden. Die passen dann natürlich auch eher zur Unternehmenskultur, doch Achtung: Auch zu den unterschiedlichen Jobs mit seinen unterschiedlichen Anforderungen?

Ich bezweifle es. Denn eins ist klar für mich: Auswahl von Menschen mittels fundierte Eignungsdiagnostik und Verfahren laut DIN 33430. Das ist die Grundlage! Und da bin ich beratungsresistent!

Herzliche Grüße, Stefan Klemens

Nachtrag:

Um Missverständnisse vorzubeugen: Zur Anwerbung von Mitarbeitern, also zum Arbeitgeber-Marketing (denn darum geht es beim Employer Branding, und nicht um Personalmarketing; Personal gab es übrigens im Kaiserreich! Siehe Oswald Neubergers Schriften), sind kreative und innovative Methoden notwendig und sinnvoll.

Nur bei der anschließenden Auswahl und Entscheidung sollte man auch ganz genau hinschauen, dass die Kompetenzen der Bewerber auch zu den zuvor definierten und natürlich von Stelle zu Stelle unterschiedlichen Arbeitsanforderungen passen: Dem Person-Job-Fit.

Natürlich ist auch der Person-Culture-Fit wichtig, der ja mit der Ruby-Kampagne eher im Fokus steht, doch was nützt es dem Unternehmen, wenn die Person, wie gewünscht eine hohe Offenheit an den Tag legt, doch z.B. bei der Buchführung, der Planung von Abläufen oder dem Umgang mit Hotelgästen genauso kreativ und individuell vorgeht?

Links:

https://www.eventbrite.de/e/tats-and-tequila-the-recruiting-event-from-ruby-hotels-tickets-662194982017

https://happeningnext.com/event/tats-and-tequila-the-recruiting-event-from-ruby-hotels-eid4so44173xa1

https://rp-online.de/nrw/staedte/duesseldorf/ruby-hotels-in-duesseldorf-recruiter-locken-mit-tatttoos_aid-93318941

Definition von Skurrilität laut Wikipedia:
https://de.wikipedia.org/wiki/Skurrilit%C3%A4t

Von Stefan Klemens

Stefan Klemens arbeitet als Diplom-Psychologe mit Fokus digitales Assessment sowie als People & Digital HR Analyst für Schorberg Analytics. Der ausgebildete Bankkaufmann ist seit 2006 im Human Resource Management mit dem Schwerpunkt Online-Assessment, Online-Befragung sowie Arbeit, Gesundheit und Persönlichkeit tätig. Zuvor war er Mitarbeiter an der Bergischen Universität Wuppertal im Fachbereich Arbeits- und Organisationspsychologie und Angestellter bei der Stadtsparkasse Düsseldorf. Seit 2020 fokussiert er sich auch auf People Analytics, Data Science und Künstliche Intelligenz. Weiter ist er Gründer und Administrator der LinkedIn-Gruppe "Wirtschaftspsychologie Region Düsseldorf" (bis 2022 auf XING). Eines seiner Hauptanliegen ist die Verbindung von Zahlen und Statistik mit Intuition und Heuristik für bestmögliche Entscheidungen im Human Resource Management.